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Mit der Zeit ist das so eine Sache – sie zerrinnt uns zwischen den Fingern, rennt uns davon, und oft kommen wir mehr schlecht als recht hinterher. Die schwedisch-schweizerische Workshop-Leiterin Anna Jelen wirkt dagegen äußerst entspannt. Sie verrät, wie wir uns die Zeit zur Freundin machen können.

VON: CARMEN SCHNITZER / Yoga journal

FOTO: CLAUDIA LARSEN

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CARMEN SCHNITZER

bemüht sich seit einer Weile, das Wort „müssen” aus ihrem Wortschatz zu verbannen. Nach dem Gespräch mit Anna Jelen möchte sie nun auch beobachten, wie oft sie den Satz „Ich habe keine Zeit” sagt oder denkt – und Konsequenzen ziehen.

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DAS PASST JA PRIMA: Zum Interview mit Zeitexpertin Anna Jelen erscheine ich zwar gerade noch pünktlich, aber abgehetzt. Okay, wir haben nur einen telefonischen Termin, aber trotzdem: Ich schnaufe und bin mit den Gedanken noch nicht ganz bei der Sache. Schuld­ bewusst gestehe ich ihr das auch gleich und hake nach …

 

Passiert dir so was auch mal?

(lacht) Mir persönlich nicht mehr, nein. Ich plane in der Regel ausreichend Zeit­puffer ein, denn irgend etwas läuft ja immer anders als geplant. Von meinen Freunden kenne ich solche Probleme allerdings durchaus.

 

Ist ihnen das vor dir dann besonders peinlich?

Ach nein, da wird vielleicht mal ge­ schmunzelt, aber sie wissen ja,dass ich sie nicht bewerte. Mir selbst sollte so was allerdings besser nicht passieren, da dürfte ich mir vermutlich ein bisschen was anhören.

 

Du warst bereits als Kind fasziniert vom Thema Zeit…

Das stimmt – ich erinnere mich zum Bei­spiel an einen lustigen Kindergeburtstag, an dem ich plötzlich in die Runde hinein fragte: ,,Was ist wohl unser Enddatum?” Da war ich sechs, und die Erwachsenen, die das mitbekommen hatten, waren gleich ein wenig verstört. Der Tod ist bei uns ja leider ein sehr großes Tabu.

Meine Mutter erklärte mir dann, dass wir unser Enddatum nicht kennen. Was anderen vielleicht Angst machen würde, weckte in mir Begeisterung: ,,Das verändert ja alles!” Ich habe diesen Moment noch richtig vor mir. Apropos: Einige Jahr später, mit 17 hatte ich ein Nahtod-Er­-lebnis, bei dem ich begriff, dass die Zeit aus Momenten besteht…

 

Heftig! Wie kam es dazu?

Ich hatte mich bei extremen Minus­ graden mit unserem Familienhund in den Schweizer Bergen verlaufen, geriet in einen Schneesturm und lag irgend­wann nachts völlig erschöpft im Schnee, mit dem Gefühl: ,,Das war’s jetzt.” Da zogen vor meinem inneren Auge im Sekundentakt Bilder vorbei, Momente aus meinem Leben.

Das Interessante: Es waren keine vermeintlich bedeutenden oder aufregenden Ereignisse, kein Bungeesprung oder so was, sondern ganz alltägliche, ,,kleine” Situationen, die aber von emotionaler Bedeutung waren, zum Beispiel ein Pizza-Essen mit meinem Vater.

Mein Hund hat mich damals gerettet – erst, indem er mich wärmte, später, indem er Hilfe holte, sodass ich gerade noch rechtzeitig ge­funden wurde. Nach diesem Erlebnis beschloss ich: Ich will in meinem Le­ben Momente kreieren, an die ich mich später mit Freude und Dankbarkeit erinnern kann. ,,Create moments” lau­tet dementsprechend heute auch eine Workshop-Reihe von mir.

 

Bis du zur „Zeitexpertin” wurdest, vergingen allerdings noch ein paar Jahre …

Richtig. Übrigens habe ich mich zunächst nicht selbst so genannt – Zeitexpertin. Das kam immer wieder von außen, berührte mich aber sehr und schließlich habe ich es übernommen. Jedenfalls habe ich nach der Matura erst einmal als Produktmana­gerin für Brustprothesen gearbeitet und hatte dadurch viel Kontakt zu Brustkrebs­ patientinnen.

Ein weiterer Baustein, der mich auf meinen Wegg geführt hat. Denn ich sah, wie viele dieser Frauen im Be­wusstsein, dass ihre Zeit endlich ist, ihr Leben änderten, sich auf die Dinge kon­zentrierten, die ihnen wichtig waren.

Oft hörte ich: “Ach, hätte ich doch früher …” Daraufhin beschloss ich für mich: “Ich warte nicht auf eine Diagnose!”

 

Was so viel heißt wie:Ich besinne mich schon heute darauf, was ich wirklich will – und handele danach?

Genau. Das zentrale Wort dabei ist: Fo­kus. Worauf will ich mich fokussieren? Ich frage mich das jeden Tag aufs Neue:Wem oder was möchte ich heute Zeit geben?

 

Ein Satz wie “Ich habe keine Zeit” exis­tiert dann wahrscheinlich in deinem Sprachgebrauch nicht, oder?

In meinem eigenen tatsächlich nicht, nein. Die Zeit ist immer da. Aber na­türlich höre ich solche Sätze von ande­ren. Im Grunde meinen die Leute damit ja: Ich habe mich für etwas anderes entschieden, meine Priorität liegt nicht auf dieser Option.Das ist ja auch völlig okay.

 

Diese kleine Verschiebung des Blick­ winkels gefällt mir, Ich glaube ja sehr an die Macht der Sprache.Daran,dass sie beeinflusst, wie wir die Welt sehen. Ist das eine Möglichkeit, um ein an­deres Gefühl für Zeit zu bekommen – nicht über den vermeintlichen Mangel zu klagen, sondern es lieber so auszudrücken: ,,Ich habe Zeit und verwende sie für dieses und jenes”?

Das bewirkt auf jeden Fall etwas, klar. Du nimmst automatisch eine positivere Haltung ein.

 

Woher kommt deiner Ansicht nach­ überhaupt das Gefiihl, dass wir immer weniger Zeit haben? Eigentlich sollte es umgekehrt sein: Wir haben Wasch­maschinen, die uns Arbeitabnehmen, müssen dank Online-Shopping zum Einkaufen nicht mal mehr das Haus verlassen und trotzdem wirkt unsere Gesellschaft hektisch wie nie.

Eigentlich paradox, in der Tat. Aber na­türlich lässt sich dieses subjektive Gefühl des Zeitmangels begründen – Zeitexper­ten nennen hier etwa die Explosion an Möglichkeiten als Ursache. Und die per­manente Verfügbarkeit: Wenn ich zum Beispiel gleich nach unserem Gespräch beschließe, Japanisch zu lernen, fände ich vermutlich auf YouTube oder sonst irgendwo im Netz einen Kurs und könn­te sofort loslegen.

Gleichzeitig haben wir aber immer noch nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung und können niemals alle uns offenstehenden Möglichkeiten nutzen. So entsteht ein Gefühl des Mangels. Und so haben wir uns in eine regelrechte Zeitkrise hineinmanövriert.

 

Und wie kommen wir da wieder raus?

Da bin ich derselben Überzeugung wie der Soziologe Dr. Hartmut Rosa, der davon ausgeht, dass ein strukturelles ge­sellschaftliches Umdenken vonnöten ist­ nicht etwa ein besseres Zeitmanagement, wie es uns teilweise suggeriert wird. Es geht darum, dass wir lernen, uns zu fo­ kussieren. Dafür gibt es verschiedene Wege. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Frau, die einen Workshop von mir besuchthatte.

Die erzählte mir später, sie habe sich vorgenommen, wöchentlich ein bestimmtes Thema in den Mittelpunkt ih­rer Aufmerksamkeit zusetzen und diesem Thema ihre Zeit zu widmen. In der einen Woche waren es Freunde und Familie, in der anderen wollte sie Fortschritt ein ih­rem Hobby machen, in der dritten ganz bewusst und in Ruhe Bücherlesen usw. So was finde ich spannend. Ich bin ohnehin eine Freundin von Experimenten.

 

Keine schlechte Idee. Den Fokus auf die eine Sache zu richten, bedeutet aber na­türlich auch, zu anderen Dingen Nein zu sagen.

Unbedingt!

 

Das ist etwas, das ich persönlich noch lernen muss. Moment, besser: das ich lernen möchte.Wenn ich mich so um­schaue, bin ich damit nicht allein. Ich fürchte, mein Problem ist die Angst vor Ablehnung. Dass ich mit meinem Nein jemanden enttäusche oder ver­ärgere.

Du hast letztlich also Angst, bewertet zu werden,oder? Ablehnung ist ja im Prin­zip eine negative Bewertung.

 

Ja, vermutlich habe ich das.

Weißt du, was viele der Menschen, die mit dem Tod konfrontiert sind, am meis­ten bereuen? Dass sie zu vieles getan haben, nur um anderen zu gefallen. Das mache ich mir immer wieder bewusst. Du hast das Recht, deinen eigenen Weg zu finden und zu gehen.

 

Gar nicht so leicht. Vielleicht sollte ich mir dazu auch mal ein Experiment ausdenken…

Klar, warum nicht? Sich auf seinen Fo­kus zu besinnen ist ein ständiger Prozess. Aber er lohntsich!

 

Im Grunde klingt das ziemlich yo­gisch. Wahrscheinlich praktizierst du auch selbst, oder?

Ja,das tue ich,jeden Morgen. Mal 10 Mi­nuten, mal eine Stunde, aber diese Zeit ist mir wichtig. Yoga hilft definitiv dabei, sich zu fokussieren. Zu lernen, wie man 100 Prozent bei der Sache bleibt und sich nicht durch das Drumherum ablenken lässt.

Das versuche ich, auch in den All­ tag zu übertragen: Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich mit dir spreche, konzent­ riere ich mich auf das Gespräch. Wenn ich Mails beantworte, plane ich dafür bewusst Zeit ein.

 

Du guckst also nicht immer mal zwi­schendurch ins Postfach?

Nein, sondern maximal zwei mal am Tag. Mein Mann hat das angeregt, der hat immer gelacht, wie oft ich früher nach­ gesehen habe. Ich habe dann mal eine Strichliste geführt … Oje! (lacht) Es ist wirklich nicht nötig ,das ständig zu tun.

 

Jetzt haben wir viel darüber gespro­chen,wie wir unsere Zeit sinnvoll nut­zen können. Wie kann sie uns denn umgekehrt helfen? Das SchwerpunktThema dieser Ausgabe heißt “In Kri­sen wachsen”. Heilt Zeit tatsächlich Wunden? Gilt wirklich: Kommt Zeit, kommt Rat?

Nun ja, Zeit hat einen Rhythmus- mal läuft das Leben schneller, mal langsa­mer,mal geht es uns gut,mal kommt es zu Krisen. Und die sind erst mal nicht per se schlecht. Denn in der Krise lernst du im Grunde, was es heißt, sich zu fo­kussieren. Es geht primär darum,wieder aus dem Loch herauszukommen: Was kann ich tun, damit es mir besser geht? Andere Dinge verlieren an Wichtigkeit, beziehungsweise es wird klar, dass sie nie so wichtig waren, wie wir sie genommen haben.

Ich sprach ja vorhin schon mal von den Brustkrebspatientinnen. Denen hat die Krise, also ihre Krankheit, gehol­fen, sich auf das Wesentliche zu fokus­sieren. Sie kann also ein gute Lehrerin sein. Anschließend gilt es, das Erlernte auch auf die gute nZeiten zu übertragen.

 

Dein”Ich warte nicht auf die Diagnose!”

Genau. In meinem Fall führte dieses Be­wusstsein dazu, dass ich mit 24 zu mei­ nem Chef gegangen bin und ihm mitge­teilt habe, dass ich keine Prothesen mehr verkaufen, sondern stattdessen Workshops anbieten wollte, die unseren Kundinnen vermitteln, wie sie ihre Zeit besser nutzen.

Erst musste er ziemlich schlucken, aber dann gab er mir grünes Licht und ich habe das Thema intensiv aus verschiedenen Blickwinkeln erforschenkönnen.

 

Was dich letztlich in die Selbstständig­keit führte.

Nach einer Weile, ja. Ich hatte wirklich viele Freiheiten im Unternehmen, aber irgendwann wollte ich noch mehr.

 

Mit deinem Vortrag “Let’sTalk About Time” warst du in vielen verschiede­nen Ländern zu Gast. Ähneln sich die Probleme?

Sehr – ob nun in Bangkok oder New York, in Stockholm oder Wien, überall neigen die Leute dazu, sich zu verzet­teln, zu vieles auf einmal schaffen und erleben zu wollen.

Das macht aber nicht glücklich. Unsere Zeit ist begrenzt, wir sollten sie bewusst genießen und nicht vollstopfen mit Dingen, die uns letztlich nicht erfüllen.

 

Ich werde mir das zu Herzen nehmen. Danke für deine Zeit, Anna.

Ich danke dir.

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